Texte | Prof. Dr. Michael Schwarz | Kunsthistoriker

 

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Michael Schwarz
Das Verschwinden der Bilder im Bild
Anmerkungen zu den „Theaters“ vom Hiroshi Sugimoto


Man könnte meinen: Jeder, der fotografiert, weiß, wie Fotos gemacht werden,
er versteht die Sprache der Fotografie, kann also Fotos lesen. Denn
schließlich ist auch jeder, der schreiben kann, in der Lage zu lesen. Wir lernen
lesen, indem wir schreiben lernen. Die Annahme jedoch, beim Fotografieren
sei es ähnlich, ist falsch. Darauf hat schon Vilém Flusser hingewiesen: „Wer
schreibt, muss die Regeln der Orthografie und der Grammatik beherrschen.
Wer knipst, muss sich (nur) an die immer einfacher werdenden
Gebrauchsanweisungen halten ... Darum ist der Knipser unfähig, Fotos zu
entziffern: Er hält die Fotos für automatisch abgebildete Welt. Das führt zu
dem paradoxen Schluss, dass die Entzifferung von Fotos immer schwieriger
wird, je mehr Leute knipsen.“

Der Widerspruch hat mit der Tatsache zu tun, dass Fotoapparate, vor allem
automatische Kameras, zwar einfach zu bedienen sind; diese funktionelle
Simplizität verdeckt jedoch strukturell hochkomplexe Abläufe, die man kennen
muss, will man – zum Beispiel – die Schwarz-Weiß-Fotografie von Hiroshi
Sugimoto verstehen. Denn diese Fotografie ist in hohem Maße konzeptionell
und analytisch. Die Werkgruppen „Dioramas“, „Seascapes“ und „Theaters“, die
alle um 1976 begonnen wurden, behandeln das Thema Zeit. Ich beschäftige
mich an dieser Stelle ausschließlich mit der Serie der „Theaters“, die unterteilt
ist in die frühe Gruppe der „Interior Theaters“ und in die 1993 und 1994
entstandene Gruppe der „Drive-In Theaters“. „Theaters“ meint in beiden Fällen
Movie Theaters, eine Information, die sich bei den „Interior Theaters“ aus den
Titeln ergibt, wenn es zum Beispiel heißt „Paramount, Oakland“ oder
„Cinerama Dome, Hollywood“. Die „Drive-In Theaters“ tragen ihre Nutzung
ohne Ausnahme im Titel – auch dann, wenn sie zur Zeit der Aufnahme längst
als Spielplatz genutzt wurden. Offensichtlich handelt es sich bei den Schwarz-
Weiß-Fotografien um Nachtaufnahmen bzw. bei den Kinoinnenraumfotos um
solche, bei denen das Raumlicht ausgeschaltet war. Die großen Lüster des
Regency in San Francisco sind erloschen und die Deckenbeleuchtung des La
Paloma in Encinitas brennt ebenfalls nicht. Nur die EXIT-Schilder und eine
Sicherheitslichtleiste an den Gängen strahlen in den dunklen Raum. Bei den
Außenaufnahmen ließen sich nicht immer sämtliche Lichtquellen eliminieren.
Da kommt das allgemeine Stadtlicht ins Bild, da sind deutlich Straßenlaternen
zu erkennen, vor allem durchziehen Lichtbahnen von Flugzeugen den
dunklen, wolkenlosen Himmel über den Autokinos. Auch dem einfachen
Knipser, der mit den wissenschaftlich-optischen Prinzipien des Fotoapparates,
den entwicklungstechnischen Regeln und der Relation von Blende und
Belichtungszeit nicht sehr vertraut ist, wird an solchen Aufnahmen klar, dass
es sich um Langzeitbelichtungen handelt. Nur wenige Betrachter dieser
Fotografien von Hiroshi Sugimoto können an den Aufnahmen selbst ablesen,
dass es sich um fotografierte Filmaufnahmen handelt. Jedes Foto belichtet
einen Spielfilm, es zeigt den Film nicht – kann ihn nicht zeigen – es bewahrt
ihn, es enthält ihn, in gewisser Weise verdankt es sich dem Film, denn
abgesehen von dem beiläufig-notwendigen Licht der EXIT-Schilder und
Straßenlaternen ermöglicht das Licht des fotografierten Films die Aufnahme.
Ohne dieses Licht bliebe das Foto ziemlich dunkel. „Time exposed“ –
belichtete Zeit nennt Sugimoto denn auch diese Werke in einer Publikation, in
der er auf die Frage nach Anlass und Entstehung der Werkgruppe antwortet:
„Eines Abends hatte ich im Kino während der Vorführung die Idee, eine
fotografische Aufnahme vom Film zu machen. Ich stellte mir vor, einen ganzen
Kinofilm mit meiner Kamera abzufotografieren. Ich hatte klar vor Augen, dass
die Filmleinwand auf meinem Bild als ein weißes Rechteck sichtbar würde. In
meiner Phantasie sollte sie so aussehen wie ein strahlend-weißes Rechteck,
das aus der Leinwand hervortritt und das ganze Kino erleuchtet.“ Wenn die
Ortsangabe auch die Vermutung nahe legt, es könne sich bei der leuchtenden
Kinoleinwand um etwas handeln, was durch die Projektion von Filmmaterial
entsteht, man sollte es wissen, dass es ein Spielfilm ist, der hier belichtet
wurde, wenn eine Interpretation im Sinne des übergreifenden Titels der
Werkgruppe „Time exposed“ aufgehen soll, denn belichtet wurde exakt
solange der im Programm gezeigte Film dauerte. Die Länge des Films
bestimmte die Belichtungszeit des Fotos. Der Knipser ist nun gerüstet. Vieles
hat sich ihm durch Hinsehen erschlossen, manches wurde über Bild- und
Werkgruppentitel indirekt zur Verfügung gestellt, einiges muss man wissen.
Nun kann die Suche nach Antworten auf die eigentlichen Fragen der Bilder
beginnen.

Fotografie und Film. Ohne die Fotografie gäbe es den Film nicht. Am Ende
des 19.Jahrhunderts, in einer Zeit zunehmender Schaulust, lieferten die
technischen und ästhetischen Innovationen von Muybridge, Marey und Edison
die Voraussetzungen für die Entwicklung des modernen Films. Schon 1879
war Eadweard Muybridge in der Lage, mit Hilfe eines Projektionsgerätes
einzeln fotografierte Bewegungsmomente als Bewegungsabläufe darzustellen.
Damit kommt - nach dem Theater - erstmals die Erfahrung der Zeit und zwar
als medial gestaltete Zeit ins Bild. Die „kinematographische Maschine ...
scheint Zeit, Lebenszeit, einzufangen und ... im ästhetischen Sinn nahezu
beliebig manipulieren zu können.“
Seit diesen Anfängen ist das Verhältnis von Fotografie und Film
spannungsreich und fruchtbar geblieben. Die Fotosequenz adaptierte die
Möglichkeit des Films, Geschichten in der Zeit zu erzählen, auf die Bildfolge;
der Animationsfilm speist seinen Erfindungsreichtum nach wie vor aus der
formalen Kraft der Einzelbilder. Hiroshi Sugimoto überträgt für die Werkgruppe
der "Theaters" drei Parameter des Spielfilms auf die Fotografie: Die
Spieldauer, das Phänomen des Films als Lichtspiel und die Bedingungen des
Spielortes. Völlig unberücksichtigt allerdings bleibt die eigentliche Sensation
des Films, nämlich die bewegten Bilder und die
Handlung, die sie erzählen. Sie werden der Aufnahme geopfert, oder anders
gesagt: Die Lichtmenge aller abgespielten Kinobilder ermöglicht das einzige
fotografische Bild. Für die Dauer der Aufnahme kontrahiert Sugimoto die
Geburt des Films aus der Fotografie und lässt das Foto aus dem Film
entstehen. Jede einzelne Aufnahme der Theater-Serie verdankt sich einer
bestimmten Filmvorführung. Der Film selbst bleibt dabei anonym, an ihm ist
allein seine Lichtdurchlässigkeit interessant. Indem er das Licht der
Projektionslampe freigibt, ermöglicht er die Belichtung des Negativmaterials in
der großen alten Plattenkamera Sugimotos. „Die 'Theaters' sind Bilder
konstanter Bewegung“, sagt der Kü nstler und meint die gleichmäßige
Bewegung der filmischen Einzelbilder hinter dem Objektiv. Ganz davon
abgesehen, dass Slow-Motion-Passagen und Standbilder im gezeigten Film
zum gleichen Ergebnis fü hren wü rden – unter dem Aspekt der belichteten
Zeit (time exposed) sind die „Theaters“ eher Bilder von Lichtbildern, die als
solche bewegte Bilder, jedoch nicht notwendig konstant bewegte Bilder sind.

Die Massenkommunikation versus Einzelbildbetrachtung. Hat man die
Entstehung der „Theaters“ verstanden, eröffnen sich weitere Annahmen. Film
reduziert sich – wie wir wissen – nicht auf eine Abfolge von Einzelbildern und
das Foto bleibt kein 110 Minuten belichtetes Negativ. Jenseits der Frage, wie
die Fotos der „Theater“-Serie entstanden sind, aber in direkter Abhängigkeit
dieser Bedingungen, stellt sich die Frage nach dem Verweischarakter dieser
Arbeiten. Worauf verweist das einzelne Foto als Bild? Die Aufnahmen zeigen
Spielorte eines der erfolgreichsten und wirksamsten
Massenkommunikationsmittel des 20. Jahrhunderts. Nach wie vor ermöglicht
der Film, und zwar gerade auch an seinem eigentlichen Aufführungsort, dem
Lichtspielhaus, das gemeinsame Erlebnis zeitgenössischer Märchen mit ihren
guten und bösen Helden, ihren alten und neuen Mythen, ihren kollektiven
Sehnsüchten und individuellen Projektionen. Trotz Fernsehen, Video und
Internet – die Faszination des Kinos ist ungebrochen. Sie umfasst die
Erlebniswelt des Films ebenso wie die der Cinemax-Theater, die in ihren
unterschiedlich dimensionierten Aufführungsboxen immer etwas für die
Erwartung des Abends bereithalten – jedenfalls aus dem Mainstream-
Programm der letzten vierzehn Tage.

Die Fotos von Hiroshi Sugimoto erzählen von einer Film- und Filmtheaterwelt,
die länger zurückliegt als die Aufnahmen selbst. Es war die große Zeit des
Hollywood-Kinos der 60er und 70er Jahre. Die Filmtheater und Drive-In-Kinos
dieser Zeit waren wie heute Erlebnisorte, mit dem einzigen Unterschied, dass
das kollektive Miteinander nicht nur im Foyer, sondern im prächtig
ausgestalteten Saal bei Eiskonfekt, Wasserorgel, Wochenschau und Vorfilm
oder auf der Rückbank großer amerikanischer Limousinen erfahren werden
konnte. Von all dem zeigen die Fotos nichts. Im Gegenteil, das Leben als
Gemeinschaftserlebnis am Rande des Films ist sorgsam ausgespart: Die
Filmtheater sind menschenleer, die Parklots unbesetzt, kein Platzanweiser,
Eisverkäufer, Parkeinweiser – niemand nimmt an den Vorführungen teil, die
dort offensichtlich stattgefunden haben. In diesen Bildern geht es zunächst um
die klassischen Spielorte, um die alten Filmtheater der 20er und 30er Jahre,
die in ihrer architektonischen Unversehrtheit abgelichtet werden. Dabei
übergehen die dunklen schwarz-weiß Fotografien die sicher vorhandene
Schäbigkeit und inszenieren die Architektur in ihrer beinahe musealen
Ausstattungsreinheit. Mit den alten Lichtspielsälen beschwört Hiroshi
Sugimoto die Magie dieser Orte, an denen jede Vorführung eines Films zu
einer Aufführung für die Zuschauer wurde. Sodann geht es in dieser Serie um
das klassische Thema des Bildes im Bild, dargestellt mit den Mitteln der
Fotografie und mit Hilfe von Licht, das der Film zur Verfügung stellt. Andere
Dimensionen des Films wie Plot, Erzählstruktur, Aufnahmetechnik werden
nicht, können nicht behandelt werden. Thematisiert wird aber auch nicht der
Film als Phänomen der Massenkultur, denn die Aufführungsorte werden als
Stillleben, nicht aber als Erlebnisorte vorgestellt. Wenn es am Film das Licht
ist, das in der Langzeitbelichtung das Foto entstehen lässt, dann ist das
zentrale Thema der „Theater“-Serie von Hiroshi Sugimoto die Zeit. Eine
Belichtung von der Dauer der Laufzeit des Films ermöglicht das Foto und
verweist dadurch zurück auf den Film. Alles, was den Film eigentlich
ausmacht, seine Handlung, seine Farben, seine Bewegung, seine Zeitsprünge
wird gleichsam aufgehoben in dem hellen weißen Bild im Bild des Hiroshi
Sugimoto. Es sind Bilder eines „rasenden Stillstands“.

Bewegung und Stillstand. Nehmen wir die „Theaters“ als Bilder einer
Versuchsandordnung, dann besteht diese aus dem architektonischen Raum
der Filmtheater, der Vorführung eines Films und der Belichtung von schwarz-
weißem Negativmaterial. In dieser Ordnung ist der Betrachter Teil des
Experiments und aufgefordert, Platz zu nehmen. Als Zuschauer des Films und
als Fotograf hinter der Kamera vergeht für ihn Zeit. Und zwar gerichtet, nicht
umkehrbar, als eine Strecke vom Teil des Lebens, die ins Chaos führt. Oder
doch nicht? Das Bild von Hiroshi Sugimoto bestätigt zunächst den Zweiten
Hauptsatz der Thermodynamik nach dem „grundsätzlich alle physikalischen
Vorgänge irreversibel sind, denn bei jeder Energieumwandlung geht ein Teil
der Energie unwiederbringlich in Wärmeenergie über.“ Im kosmischen Raum
führt dieses Phänomen zur stetigen Erwärmung der Galaxien und schließlich
zum Wärmetod des Universums. Längst ist messbar, wie viel Wärmeeinheiten
durch das Abspielen eines Spielfilms – allein für Herstellung eines der
„Theater“-Bilder von Sugimoto – freigesetzt werden und uns der Entropie
näher bringen. Zwar ist der zweite Hauptsatz selbst nicht in Frage zu stellen,
wohl aber die davon abgeleitete Chaos-Theorie. Die Erwärmung des Kosmos
muss nicht notwendigerweise zur Unordnung und damit in die Katastrophe
führen. Vielmehr lässt sich in der Thermodynamik ein Schlüssel zur Ordnung
des Lebens erkennen, wenn man annimmt, dass im Zusammenwirken von
Thermodynamik und Gravitation aus extremer Unordnung neue Ordnungen
entstehen können.

Für diese aktuelle Diskussion über Chaos und Selbstorganisation stellt Hiroshi
Sugimoto in seinen „Theaters“ eine Bildmetapher zur Verfügung. Sie beginnt
bei dem Foto, das wir sehen. Schwarz-weiß und langzeitbelichtet verweist es
als Foto auf die Anfänge der Fotografie, also auf eine Zeit, in der aus
Experimenten mit der Fotografie der Film entstand. Diese Entwicklung
beschleunigt sich, aber auch die Schnitte, Kameraschwenks und Zooms
haben sich bis zum Zeitpunkt der Aufnahme 1993 in einem Maße
beschleunigt, dass man den Bewegungstod des Films befürchten musste. An
dieser Stelle hält Sugimoto die Entwicklung an, begräbt die bewegten Bilder
der gesehenen Filme im weißen Loch der Leinwand und führt den Zeitpfeil
zurück in die Zukunft.




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