Texte | Prof. Dr. Michael Schwarz | Kunsthistoriker

 

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Michael Schwarz
Klaus Stümpel – „Mon pauvre cœur est un hibou“


„Der Vogel ist das erste Kulturwesen: er brachte die Kunst in die Welt, durch Melodie statt Quaken, Raumüberwindung statt Kriechen, Architektur statt Sandgrube, Balz, Paarwahl, Familie statt Ablaichen, Bordcomputer statt Kleinhirn. Der Vogel ist der Höhepunkt der Evolution; seitdem hat sie ihre Leichtigkeit verloren, degradiert und degeneriert sich, verfettet, verknöchert, verkopft, gleichgewichtsverlustig.“ Georg Jappe

Auf einer seiner ersten bildmäßigen Zeichnungen protokolliert Klaus Stümpel mit Farbstiften und Pastellkreide ein Singdrosselnest, beschreibt die Hölzer, mit denen er das Nest im Atelier stabilisiert hat, zeigt akribisch die trockenen Äste, die Gräser, Laub und Moos und die mit Lehmerde und faulem Holz ausgekleidete Mulde der am Rand leicht eingezogenen Nestwand – eine kunstvolle Konstruktion und ein stabiles Haus zur Aufzucht der Brut. Thema dieser frühen Zeichnung ist das Nest als Stillleben. Stümpel ist zu diesem Zeitpunkt längst ein ausgewiesener Amateurornithologe, der einen Vogel am Flug erkennen, Vogelstimmen zuordnen und Nester bestimmen kann, er hält im eigenen Atelier eine gezähmte Dohle und züchtet im Haus der Familie in Apelnstedt Tauben. Damals hätte er Georg Jappe treffen sollen, der mit seinen Vogelbeobachtungen begonnen hatte und sie ab 1974 als Ornithopoesie auf seinen Schreibtischblättern festhielt. Sie hätten sich verstanden.

Klaus Stümpel, zu der Zeit Meisterschüler bei Roland Dörfler, hatte sein Thema gefunden. In arrangierten Stillleben zeichnet er Tauben, Sperlinge, Blässhühner, Bussarde mit vollem Gefieder, fragmentiert oder skelettiert, oft zusammen mit Utensilien seines Ateliers, mit Bürsten, Kabeln, Schraubschlüsseln, Schuhen und Gürteln. Doch Vögel bleiben lange das zentrale Motiv und geben den Arbeiten oft ihre Titel. Erst mit dem Blatt Dunkle Zeichnung mit Haussperling von 1977 ändern sich nachhaltig Abstraktionsgrad und Bildkomposition seiner Stillleben. Die wiedergegebenen Tiere und Gegenstände erscheinen fortan abbreviiert, weniger naturalistisch – vor allem aber durch einen collagierenden Zeichenstil wie ausgeschnitten und durch übergreifende Schraffuren verunklärt. Hier beginnt ein künstlerisches Verfahren, das Klaus Stümpel in den folgenden Jahren weiterentwickeln und aus dem Medium der Zeichnung in echte Collagen überführen wird. Die Collage, von der es heißt, sie sei eine künstlerische „Form der Skepsis“ (Werner Spies), wird später eine wichtige Technik seiner Kunst und Träger einer ganz eigenen Bildwelt.

Der Vogel als titelgebendes Motiv der Arbeiten tritt Anfang der 80er Jahre zunächst zurück und macht anderen Tieren Platz: Fisch, Meerkatze, Käfer, Salamander, Hauskatze. Auch sind diese nicht länger bildbestimmend eingesetzt, sondern Teil einer gezeichneten Accrochage von Gegenständen, die in den Italienischen Arbeiten ab 1984 aus einem neuen, eindeutig römischen Fundus kommen. Zudem entdeckt Klaus Stümpel in den Landschaften und Stillleben jener Zeit den Bedeutungsmaßstab und beginnt, die mediterranen Häuser zu verkleinern, den Salamander, das Flugzeug und die Eule hingegen zu monumentalisieren. Neu in den großformatigen Zeichnungen am Ende des Jahrzehnts sind die Büsten; in einer Arbeit wie Waran von 1988 sind sie zwar Teil des arrangierten Stilllebens, gleichzeitig aber auch Beobachter dieser aus dem Gleichgewicht geratenen Bildwelt.

Ähnlich existentiell erscheinen die italienischen Landschaften mit ihren hoch aufragenden Häusern, die Klaus Stümpel seit seinem Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom aus dem Latium und der südlichen Toskana gut kennt. Denn durch diese schreiten seit den 90er Jahren teilnahmslos, aber doch dominant Typen, die nur als Künstlerporträts gelesen werden können. In den Pastellen und Collagen, später in den Skulpturen, sehen sie aus wie hilflose Irrläufer, erstarrt in Gesten des Zweifelns und Staunens über das Chaos dieser Welt. Nunmehr erforscht sich der Künstler selbst, sieht sich – vereint mit den Vögeln – als Kampfläufer, Steindreher oder Haberbock. Schon 1980 gesteht er: „Seit meiner Kindheit bin ich von direkten Naturerlebnissen geprägt. Mich faszinieren alle, noch nicht von der Zivilisation verstellten und geglätteten Erscheinungen. Die Welt und das Wesen des Vogels sind für mich immer eine unerreichbare Ebene gewesen. Um zu ihr zu kommen, habe ich vieles unternommen: Ich habe Vögel gezüchtet, gefangen, gefüttert, gepflegt, Behausungen für sie gebaut, ihren Lebensraum geschützt, sie getötet und sie gemalt.“

Aus diesem Selbstverständnis des Künstlers heraus entstehen Anfang des letzten Jahrzehnts großformatige Assemblagen wie Am Vogelherd, zahlreiche Studien von Vögeln und Gefieder und vor einigen Jahren dann die Werkgruppe Bestiarium. In dieser Werkgruppe sind die Taube, der Raubwürger, der Schreiadler, der Sperling, der Mauersegler und die Bachstelze nicht mehr gezeichnet, gemalt oder geschnitzt, sondern ihre Federn und ihr präparierter Tierkörper als Assemblage ins Bild gesetzt. Eine Arbeit fällt auf, weil sie an Stelle des Vogelkörpers eine menschliche Figur, einen dieser Menschlinge von Klaus Stümpel zeigt. Nackt, mit angelegten Armen, gleichsam schwebend steht sie im Bild, gerahmt von zwei Federn, und belegt eindeutig und nachvollziehbar das besondere Verhältnis des Künstlers zum Vogel. „[...] der Vogel ist für mich ein Lebewesen, das ich sozusagen selbst durchlebt habe. [...] Das, was ich ausdrücken möchte, kann ich am besten über die Vögel zeigen und sichtbar machen.“ Mit diesem Selbstentwurf als Vogel steht Klaus Stümpel unübersehbar in der Tradition individualmythologischer Stilisierungen, wie sie von Pablo Picasso, vor allem aber von Max Ernst und den Surrealisten entworfen und ausgeprägt wurden – allerdings mit einer anderen, eigenen Bedeutungsebene. Während die Tiermetaphern der Surrealisten um die vier Zentren „Mythos, genderspezifische Codierung, Sexualität und Metamorphose“ kreisen, erfindet sich Klaus Stümpel als Vogel, der den Vögeln, die er kennt, nahe sein will. Max Ernst sah sich als Vogel geboren und identifizierte sich mit Loplop, dem König der Vögel. Zahlreihe Bilder und Collagen variieren in den darauffolgenden Jahren „Loplop als ‚zensierendes Über-Ich’“«, als „Kontrollinstanz [...], die darüber entscheidet, welches Material überhaupt in diese Collagen eintreten kann.“ Diese Kontrollfunktion erfüllt der Vogel bei Klaus Stümpel nicht. Gleichwohl hat er auf der Bühne seiner italienischen Landschaften und Stadtansichten, in den mit Fundstücken vollgestellten Stillleben und späten Collagen einen herausragenden Platz: Oft ist ein klar erkennbarer Vogel in der Unübersichtlichkeit der miteinander verschränkten Figuren und Gegenstände das zentrale Motiv – nicht größer als andere Motive, fixiert der Vogel den Blick, zieht uns ins Bild, lädt ein, die Bildwelt von innen neu zu sehen. Der Vogel als Alter Ego des Künstlers und zugleich als abwehrendes Zeichen in einer aus dem Gleichgewicht geratenen, vielansichtigen Welt.

Da ist es dann nur folgerichtig, wenn der Name des gezeichneten, gemalten oder collagierten Vogels der Arbeit auch den Titel gibt. In der 17teiligen Werkgruppe Bestiarium, in der reale Federn und präparierte Vögel in eine eigene Bildordnung gebracht worden sind, ist der Vogel ein Zeichen, das Unheil bannt, indem es Totes zeigt. In neueren Arbeiten wie Sturzmauser monumentalisiert Klaus Stümpel den Vogel und überhöht ihn mit ausgebreiteten Flügeln in Kreuzform als Leidfigur. Schaut man zurück auf andere Indentifikationsmetaphern des Künstlers, wie den Irrläufer, so zeigt sich, dass die Vögel in den Bildern von Klaus Stümpel der große Haltepunkt in einem sonst chaotischen Weltengefüge darstellen. Die statuarisch gesetzten Vögel liefern die Koordinaten, in denen sich die Instabilität und Gefährdung der Figuren und Dinge erst erkennen lässt. Und doch bleiben auch sie Teil eines zusammengesetzten Bildes, das dem Organisationsprinzip der Collage folgt und also dialektisch ist. Klaus Stümpel bietet keine enggeführte Weltdeutung; seine immer anders kompilierten Bildwelten sind widersprüchlich, mehrdeutig, weil schon die Teile, aus denen sie gebildet werden, mehransichtig sind. Das liegt an ihrer Herkunft. Besonders einsichtig wird das in den Collagen der letzten Jahre mit ihren ausgeschnittenen, schablonierten, fragmentierten, akkumulierten Motiven aus dem Repertoire: Vögel, Menschlinge, Architekturen, gelegentlich ein Frosch oder eine Gams. Zwar hat Klaus Stümpel von Anfang an, also schon in den Stillleben der 70er Jahre, die Tiere und Gegenstände collageartig zusammengestellt, seine Arrangements jedoch – wie er sie sah – gezeichnet. In den Collagen der letzten Jahre erfindet er die Themen aus einem Material, das er selber grundiert, gezeichnet oder bemalt hat. Aus diesem vorhandenen, schon bearbeiteten Material schneidet er positiv oder negativ Motive aus, die schon strukturiert sind, weil sie aus anderen, größeren Zusammenhängen kommen. Ich erkenne darin jene Skepsis gegenüber einer gezeichneten Bildwirklichkeit, von der Werner Spies spricht, weil die gezeichnete Bildwirklichkeit bei aller Erfindung immer gebunden blieb an die gesehene. Durch die Wiederverwendung eines schon vorhandenen bildnerischen Materials, das in diesen Collagen in ganz neue Motiv- und Bildzusammenhänge gebracht wird, gewinnt Klaus Stümpel hingegen eine bis dahin nicht gekannte Freiheit. Von dieser schreibt Jean Dubuffet nach Experimenten mit den Tableaux d’assemblages in den 50er Jahren: „Während der Arbeit an den Assemblagen aus bedrucktem Material empfand ich das Bedürfnis, eine ähnliche Technik für die Ölmalerei auszuprobieren. Ich stellte mir vor, auf den Leinwänden alles Mögliche zu versuchen: mit verschiedenen Materialien, Flecken, Fehldrucken usw., aus denen ich dann die Teile, die mir gefielen, herausschneiden und sie anschließend nach meinen Vorstellungen wieder zusammenfügen könnte. [...] Mein neues Vorhaben gestattete es mir, alle möglichen Versuche zu unternehmen, ohne durch irgendeine Rücksichtnahme behindert zu sein.“

Die Entwicklung des Werkes von den realistischen Zeichnungen der frühen 70er Jahre über die collageartigen Arbeiten in der von Klaus Stümpel entwickelten Mischtechnik aus Malerei, Zeichnung und Materialdruck bis hin zu den Assemblagen der letzten Jahre wiederholt auf frappante Weise jenen Aufbruch der Moderne zwischen 1890 und 1914, den Werner Hofmann als einen Weg „Von der Nachahmung zur Erfindung der Wirklichkeit“ beschrieben hat. Mit der Erfindung der Wirklichkeit in den Assemblagen seines Spätwerkes stärkt Klaus Stümpel die Eigenmacht des Bildes und öffnet es für mehransichtige Interpretationen – dort, wo er das für ihn existentielle Vogelthema weiter bearbeitet, wird es zur offenen Metapher. Befreit von den Einschränkungen der Nachahmung wird der Vogel zu einem Motiv vielfältiger Mutmaßungen, Einsichten, aber auch Zweifel. Erst die Überlagerung und Verschränkung fremder oder schon behandelter Materialien im Bild führte zu jener Distanz, die Voraussetzung für jede eigenwillige und eigenständige Aneignung des Vogelthemas ist. Gleichzeitig erlaubt sie dem Betrachter, sich ebenfalls einzurichten in dieser Bildwelt, in der alles und jedes mit allem und jedem zusammenhängt, also relativ ist. So sah es schon Montaigne: „Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.“




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