Texte | Prof. Dr. Michael Schwarz | Kunsthistoriker

 

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Michael Schwarz
Paul Schwer – Morning Margareta


Was sehen wir, über was können wir sprechen, was müssen wir wissen, wenn wir in diesen Raum kommen? Einige werden sagen, diesen Raum kenne ich, wenige werden sagen können, in diesem Raum habe ich vor 10 Jahren die Installation Farbverspannungen von Paul Schwer gesehen. Niemand wird wissen, warum die Arbeit Morning Margareta heißt. Morning Margareta ist der Name eines Cargo Liners, der mit Autos beladen am 27.11.2010 Bremerhaven verlassen hat und heute mit etwa 9 ktn im Südchinesischen Meer Kurs auf Shanghai nimmt. Paul Schwer hat ihn hier auslaufen sehen. Mehr müssen Sie nicht wissen – jedenfalls vorerst nicht.

Also was sehen wir? Wir sehen feste, ineinander gestellte, teilweise zerstörte Wände und wir sehen verschiedenfarbige Leuchtstoffröhren, die sich durch diese Wände bohren in einem Raum, der mit seiner Empore immer auch etwas von einem Bühnenraum hat. Die Wände sind teilweise geöffnet, sodass man ihre Konstruktion erkennt: Doppelte Holzgitter sind mit Styrodur- oder Styroporplatten verkleidet. So baut man einfache Trennwände, auch Stellwände, die nicht viel tragen müssen. Die drei unterschiedlich großen Wände sind ineinander geschoben und in ein empfindliches Gleichgewicht gebracht. Gleichwohl ist die Konstruktion stabil, so als sei sie nach einer Energieentladung rätselhafter Provenienz vorübergehend zur Ruhe gekommen. Diese Konstruktion erinnert entfernt an dekontruktivistische Architektur, zum Beispiel an den kürzlich fertig gestellten UFA-Filmpalast des Büros Coop Himmelb(l)au in Dresden oder – gerade was die Verwendung einfacher, ärmlicher Materialien angeht – an das Gehry House von 1978 in Santa Monica. Doch derartige Verweise führen nicht weiter, denn die Konstruktion von Paul Schwer überbaut ja keinen Raum, sondern bleibt offen und ist so eher Skulptur als Architektur, eine Skulptur, die durch Licht gesprengt und – so scheint es – in diese Form gebracht wurde. Denn durchbrechen nicht die gebündelten Leuchtröhren die Wände und zerstören sie? Geht nicht die eigentliche Kraft, die anarchische Wucht dieser Installation vom Licht aus? Wie Lichtpfeile treffen die Leuchtröhren auf die Wände, zerstören sie und schießen auf der anderen Seite wieder heraus. Also ist die Dekonstruktion der Wände, ihre Verschränkung und der teilweise Zerfall das Ergebnis einer Lichtenergie, die von extrem stoßempfindlichen Leuchtkörpern ausgeht. Was kann das bedeuten? Ich sage nicht: was soll es bedeuten, denn jeder wird auf eine solche Frage andere Antworten geben. Nun, das kann bedeuten, dass Kräfte, wenn sie leuchtend und verführerisch auftreten, oft die Gefahr, die von ihnen ausgeht, vergessen lassen. Es schneit und wir freuen uns über die weiße Weihnacht, dann regnet es, wie es oft schon im Januar geregnet hat, und plötzlich ist das Hochwasser da und dekonstruiert das Leben der Menschen an der Mosel und anderswo.

Doch bleiben wir beim Licht und der Art und Weise wie es Paul Schwer einsetzt. Es ist ja nicht so, als würde das Licht die Skulptur nur destabilisieren, das Licht, dieses Bündel aus Leuchtröhren, trägt sie auch, stützt sie und hält sie im Bühnenraum der Ausstellung im Gleichgewicht. Das Licht, das als Lichtpfeil eine Richtung hat, wird zum eigentlichen Energiezentrum der Installation – und wir sind mitten drin. Das meine ich gar nicht so vordergründig, wie Sie vielleicht denken könnten. Sicher, wir stehen mit dem Werk auf dieser Bühne, aber wir sind durch das Licht auch einbezogen.

Meine Damen und Herren, wir sind hier heute Morgen ja in keinem kunsthistorischen Seminar. Deshalb gehe ich nicht darauf ein, dass Paul Schwer in Arbeiten wie dieser den Klassiker einer Lichtkunst, die mit farbigen Leuchtröhren Wandfelder, Raumecken und ganze Räume definiert, hinter sich lässt, indem er dem Licht seine Aura nimmt, die Röhren ebenso provisorisch wie dynamisch verbaut – vor allem aber, indem er den sich bewegenden Betrachter zu einem (hoffentlich) neugierigen Besucher macht, der gerne wissen möchte, wie es sein kann, dass ein paar von diesen so empfindlichen Leuchtstoffröhren heil durch die Styroporwände kommen und was das bedeuten könnte. Diesen Bezug zu Dan Flavin, aber auch das Verhältnis zum Werk des leider früh verstorbenen Gordon Matta-Clark, der zum Abriss freigegebene Gebäude aufgebohrt und aufgeschnitten hat und durch das einschießende Licht die Architektur dekonstruierte, würde ich gerne bei anderer Gelegenheit ausführlicher untersuchen.

Nein, wir sollten vielmehr danach fragen, was ist mit Morning Margareta? Eine Antwort finden Sie im sogenannten Grafikraum, wenn Sie bereit sind, in dem mit Plexitafeln und Leuchtstoffröhren verkleideten Gerüst den Cargo Liner zu erkennen – in jedem Fall ist Morning Margarete auf dem ausgestellten Foto zu erkennen. Und, wenn Sie gelesen haben – wissen kann man das nicht – dass der Sound, der dort zu hören ist, aus chinesischen Taxis stammt. Die bemalte Halbkugel, ebenfalls aus Plexiglas, mit dem Titel Shanghai steht für den Zielort des Cargo Liners und macht anschaulich, dass das Schiff um die halbe Welt fahren muss, um seine Fracht zu löschen. Vor dem Eingang zur Ausstellung ein deutsches Auto mit einer Leuchtröhre.

Was aber bedeutet das nun alles? Wer eine mehrdeutige Installation so eindeutig etikettiert, riskiert für den Augenblick eine eng geführte Interpretation, der Sie nicht folgen, die Sie sich aber jetzt anhören müssen. In der Kunst ist alles ein Gleichnis. Deshalb schauen wir hier auf Europa, auf eine Staatengemeinschaft in der Krise, die eine politische und erst in zweiter Linie eine fiskalische ist. Wir schauen auf die Länder der Alten Welt, die nach wie vor zu wenig in Bildung investieren, obwohl dort doch die einzigen Ressourcen liegen, über die wir verfügen. Noch geht es uns gut, noch sind die Produkte deutscher Ingenieurskunst auf den Weltmärkten gefragt. Der Export boomt, riesige Schiffe verlassen unsere Überseehäfen mit Autos und anderem technischen Gerät. Weil aber Konfuzius sagt, der Mensch handelt klug, wenn er Dinge, die sich bewährt haben, gut nachmacht, werden wir bald Autos und anderes technisches Gerät als chinesische Produkte auf unseren Märkten finden. Dann wird es uns nicht mehr so gut gehen.

Doch auch dieses Gleichnis bleibt irgendwie auf der Strecke – und deshalb liebe ich die Kunst. Denn warum sollten wir, wenn alles dies so käme, in unseren in China hergestellten Taxis auch noch chinesische Musik hören?




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