Texte | Prof. Dr. Michael Schwarz | Kunsthistoriker

 

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Michael Schwarz
Kunstraum Alexander Bürkle, Freiburg – Plus de Lumière
Eröffnung der Ausstellung am 24. Oktober 2010


Dass Johann Wolfgang von Goethe auf seinem Sterbebett gehaucht
haben soll „mehr Licht“ wird zwar kolportiert, ist jedoch strittig. Denkbar
wäre es schon bei diesem Pantheisten der Aufklärung. Einen Priester
jedenfalls hat Goethe nicht verlangt, das ist durch Eckermann verbürgt.
Und vergessen wir bei dieser Kolportage auch nicht, Goethe starb bei
Kerzenschein, im vierten Jahrzehnt des letzten dunklen Jahrhunderts,
viele Jahre vor der Erfindung der Glühlampe und deshalb wäre sein
Wunsch nach mehr Licht durchaus verständlich. Heute muss ein Ruf
nach „plus de lumière“ gut begründet werden. Deshalb bin ich hier.
Herr Ege, Frau Galandi-Pascual, liebe Frau Gut, verehrte Freundinnen
und Freunde, liebe Gäste des Kunstraum Alexander Bürkle, wir sind
beim Thema. Im 21.Jahrhundert brauchen wir eigentlich nicht mehr,
sondern eher weniger Licht, denn längst haben wir es mit einer Luft- und
Lichtverschmutzung zu tun, die alles in den Schatten stellt. Unsere
Großstädte sind – wenn das Licht angeht, oft brennt es ja den ganzen
Tag – eher zu hell, in ihnen verwischt sich seit langem der Unterschied
von Tag und Nacht, Las Vegas ist überall. Wenn nun aber Claude
Lévêque in seiner auf der Einladungskarte abgebildeten und in Raum 9
ausgestellten Arbeit schreibt „plus de lumière“, dann müssen wir uns
sorgfältig fragen, was er meinen könnte. Die Arbeit gehört zu einer 1997
begonnenen losen Werkgruppe mit doppelbödigen Sentenzen wie „la vie
est belle“, „nous sommes heureux“, „goût à rien“ (zu nichts Lust). Nun ist
das Leben – wie wir wissen – nicht nur schön, wir sind auch nicht in
jedem Augenblick glücklich und dass wir durchgehend unmotiviert,
lustlos und antriebsschwach wären, werden (hoffentlich) nur wenige
unter Ihnen von sich sagen können. Also meint „plus de lumière“ in
jedem Fall auch das Gegenteil, also weniger Licht. Bezogen auf die
Lichtkunst, bezogen auf die Werke in dieser Ausstellung, würde ich
allerdings behaupten, es kann gar nicht genug Licht geben. Warum?
Weil uns die hier versammelten Lichtkünstler einführen in den
Zusammenhang von Licht und Raum, weil sie auf dem Feld der Kunst
eine Erweiterung der Malerei durch Licht aufzeigen, weil sie mit Bezug
auf den öffentlichen Raum über das Verhältnis von Licht und Sprache
bzw. Text handeln, weil sie die Wechselbeziehung von Licht und
Wahrnehmung sinnfällig machen und weil sie in enger Zusammenarbeit
mit Leuchtmittelherstellern neue Formen und Einsatzmöglichkeiten von
Leuchtkörpern entwickeln. Mit dem Letzteren will ich beginnen.
Im ersten Raum werden Sie Starbrick sehen – ein Lampenmodul von
Olafur Eliasson, also ein Designobjekt aus der Forschungsabteilung des
in Berlin lebenden dänischen Künstlers, der mit seinen über 30 in ganz
unterschiedlichen Disziplinen ausgebildeten Mitarbeitern zu den
vielseitigsten Lichtkünstlern unserer Zeit gehört. Ziel war es, einen
variablen Leuchtkörper zu entwickeln, der in Größe und Leuchtstärke
den jeweiligen Bedingungen eines Raumes angepasst werden kann und
der – obwohl nur mit weißen LEDs ausgestattet – einen gelben,
kaleidoskopischen Lichtkern enthalten sollte. Dies gelang durch die
Verwendung von zwei unterschiedlichen Carbonmischungen, die das
Licht an den Kanten der Module anders brechen als im Zentrum.
Starbrick ist seit dem letzten Jahr auf dem Markt und ein Beispiel für die
gelungene Zusammenarbeit eines erfahrenen Lichtkünstlers mit dem
innovativen Unternehmen Zumtobel auf dem Gebiet der angewandten
Kunst.

Warum, so hatte ich eingangs rhetorisch gefragt, kann es gar nicht
genug Lichtkunst geben und unter anderem geantwortet, weil uns
Lichtkünstler mit ihren Werken einführen in die Zusammenhänge von
Licht und Raum. Mit Dan Flavin, Christian Herdeg und Michel Verjux sind
Künstler in dieser Ausstellung vertreten, die in ihren Werken
Raumbezüge aufzeigen, deren Werke sich auf den Raum oder auf
Raumabschnitte beziehen und einen Betrachter verlangen, der sich
bewegt. Die Arbeit Untitled (to Otto Freundlich) von Dan Flavin aus dem
Jahr 1990 ist für die Wand eines bestimmten Galerieraumes entwickelt
worden, kann bzw. darf jedoch unter ähnlichen Bedingungen auch an
anderen Orten, dort aber nur an einer Raumwand (also nicht in der Ecke
und auch nicht zusammen mit anderen Arbeiten von Flavin) ausgestellt
werden. Sie besteht zudem – anders als Starbrick von Eliasson – aus
handelsüblichen Leuchtstoffröhren in den Standardabmessungen von
4 ft gleich 120 cm in den Farben Pink und Gelb. Steht man vor der Arbeit,
wird schnell klar, wie sie wirkt. Durch das zentrale, Pink gerahmte Gelb
fixiert, ja zentriert sie den Betrachter. Der Baldachin über den vertikalen
Lichtlinien verstärkt noch die Wirkung.
Diese Arbeit zieht uns zu sich und fordert Erinnerung an Otto Freundlich,
den großen deutsch-jüdischen Maler und Bildhauer, der 1943 im KZ
Majdanek ermordet wurde.

Auf das Sehen selbst hingegen verweist Michel Verjux – auch er ein
Meister der Reduktion, dessen bevorzugtes Material das Projektionslicht
eines Theaterscheinwerfers ist, das er – ohne seinen Raum abzudunkeln
und dadurch theatralisch zu überhoÅNhen – präzise auf einen bestimmten
Raumabschnitt ausrichtet und erreicht, dass der Raum an dieser Stelle
verändert wird, sich öffnet, ein Wandbild erhält. Aber weil nichts weiter zu
sehen ist oder gar abgebildet und dargestellt wird – ist das Sehen selbst
thematisiert. Verjux stellt Fragen, die unsere Wahrnehmung betreffen,
z.B. sehen wir eine helle Öffnung oder eine Malerei, oder: warum
verändert sich an dieser Stelle das Raumlicht. Genau das ist das
zentrale Thema im Lebenswerk von James Turrell, von dem Sie eine
Arbeit in Raum 6 finden.

Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass diese Tall Glasses von
Turrell gleichsam eine Umkehrung der Skyspaces sind (einen solchen
Skyspace finden Sie übrigens nicht weit von hier in Zuoz bei St.Moritz
auf dem Gelände des Hotel Castell). Annelie Lütgens: …“so wie der
Raum in ein wechselndes Licht getaucht erscheint, das vom Tall Glass
ausgeht, so wie es also eine Interaktion zwischen Werk und Umraum
gibt, der sich abhängig vom Farbverlauf des Tall Glass Piece
atmosphärisch ändert, so gibt es auch eine Interaktion zwischen
Naturlicht und Kunstlicht in den Skyspaces.“ Umkehrung oder nicht – ich
favorisiere in diesem Vergleich die Skyspaces, sitze gerne in einem
dieser Räume wie kürzlich im Yorkshire Sculpture Park in Mittelengland,
warte auf die Nacht und mache visuelle wie emotionale Erfahrungen, die
nur noch selten möglich sind in unseren reizüberfluteten Städten und
Gemeinden.

Bevor ich Ihnen abschließend die Gruppe der Neonarbeiten vorstelle, ein
kurzer Exkurs auf einen Außenseiter dieser Ausstellung, auf ein Werk,
das eigentlich hier gar nichts zu suchen hat, denn Matthieu Mercier ist
kein Licht- sondern ein Konzeptkünstler. In Raum 9 finden Sie eine
kleine Arbeit dieses noch relativ jungen französischen Künstlers, dessen
umfangreiches Werk in den letzten Jahren in großen Ausstellungen
(auch Einzelausstellungen) zu sehen war. Die Arbeit zeigt eine
Neonröhre, die wie ein Seil geformt ist, das über einem an der Wand
befestigten Stahlstab hängt. Es geht in diesem Werk nicht um
Wahrnehmungsfragen und auch nicht um eine Licht-Raum-Relation,
sondern um Kunstgeschichte. Das Werk kommentiert hängende Soft
Sculptures von Robert Morris und Richard Serra, also amerikanische
Minimalskulpturen der 60er Jahre. Die Frage ist, ob man diesen
konzeptuellen Ansatz sehen kann oder wissen muss. Wie bei allen Neo-
Konzeptualisten ist es hilfreich, einige der Beispiele zu kennen, auf die
sich die Arbeiten beziehen. Aber man erkennt auch ohne dieses Vor-
Wissen sofort die Kontextverschiebung: ein urspünglich flexibler, weicher
Gegenstand (das Seil) wird in eine starre, leuchtende Neonschleife
überführt und demonstrativ aufwendig montiert. Schauen Sie selbst.
Den Schwerpunkt der Ausstellung bilden die Neonarbeiten. Hier sind
wichtige Vertreter mit z.T. mehreren Werken dabei: François Morellet,
Maurizio Nannucci, Keith Sonnier und – als Vertreterin einer etwas
jüngeren Generation – Brigitte Kowanz. Die mit dem Edelgas Neon
gefüllten Röhren wurde 1912 erfunden und zunächst ausschließlich für
Werbezwecke eingesetzt. In den 20er Jahren begannen dann vereinzelt
Künstler, z.B. am Bauhaus in Dessau, mit Neon zu experimentieren. Als
künstlerisches Medium wurde das Neonlicht jedoch erst in den 60er
Jahren entdeckt, nachdem es seinen Siegeszug als Leuchtreklame (vor
allem in den USA) schon fast hinter sich hatte. Als Reflex auf diesen
angewandten Bereich, in dem die Botschaften prägnant und eindeutig zu
sein hatten, ist das Alfabeto fonetico von Mauricio Nannucci aus dem
Jahre 1967 zu interpretieren: Es verrätselt die Buchstaben, ohne die die
Wörter und Begriffe der Werbebotschaften nicht auskommen, durch ein
geschriebenes fonetisches Alphabet. In der Generation der Väter (Mütter
gibt es in diesem ersten Jahrzehnt der Neonkunst noch nicht, wohl aber
später Töchter) geschieht vieles spielerisch, mit Sprachwitz und einer oft
ironischen Distanz zum eigenen Werk, wie bei Franois Morellet, der in
vielen seiner neueren Arbeiten ältere kommentiert. Z.B. in Après
refléxion von 2009, die seine lange Beschäftigung mit dem Quadrat, mit
Gitterstrukturen, parallelen Reihungen, Überlagerungen, Rastern (alles
Titel umfangreicher Werkgruppen) aufbricht durch ein unregelmäßiges
Neongitterwerk über einem Quadrat. Das nenne ich ein souveränes
Alterswerk.

Mit Brigitte Kowanz und ihren drei Arbeiten in Raum 4 schließt sich der
Kreis zu Olafur Eliasson. Wie dieser betreibt die in Wien lebende
Künstlerin Grundlagenforschung, entwickelt zusammen mit der Industrie
neue Leuchtmittel und Schaltsysteme. Sie sieht in ihren Lichtobjekten
immer auch Modelle für größere Projekte. Die Verwendung von Neon,
LEDs, Spiegel und interaktiv reagierende Sensoren hat in den letzten
Jahren zu einige spektakulären Lichtinstallationen im öffentlichen und
halböffentlichen Raum geführt, wie bei der MEAG in München oder dem
Neubau des Max Planck Instituts in Münster.

„Plus de lumière“ – der Ruf nach mehr Licht und sein Gegenteil. Die
Forderung nach mehr oder weniger Licht verkürzt die Lichtfrage vielleicht
zu sehr auf die Frage nach der Helligkeit, also nach der Luxzahl.
Deshalb schließe ich passend zum Medium mit einem Zitat des ersten
Professors für Experimentalphysik an der Universität Göttingen, Georg
Christoph Lichtenberg, der in Heft L seiner Sudelbücher schreibt: „Man
spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Aber was hilft alles
Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, die sie
haben, diese vorsätzlich verschließen.“

Meine Damen und Herren, halten Sie die Augen offen, dann werden Sie
auch genug Licht haben, um zu sehen.




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