« zurück
Michael Schwarz 
          Innovationen des Zufalls. Anmerkungen zur Rolle des Betrachters 
          im Werk von Lienhard von Monkiewitsch 
          
          Seit Anfang der 1980er Jahre findet Lienhard von Monkiewitsch die 
          Kompositionen seiner Bilder immer häufiger nach dem Zufallsprinzip. Zu 
          diesem Zeitpunkt entwickelte der Künstler Bildsysteme, die eine große 
          Zahl von Variationen zulassen. So enthält die 1984/85 konzipierte Serie 
          „6-teiliges Rechteck“ eine Vielzahl von Möglichkeiten, die auszuführen 
          sehr viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Wenn aber eine Auswahl 
          getroffen werden musste, welche Bilder aus dem Programm ausgeführt 
          werden sollten, dann musste sich der Künstler entscheiden – oder die 
          Entscheidung dem Zufall überlassen. Um Bilder zu erhalten, die offen 
          genug sind, das gewählte System zu repräsentieren, legte Lienhard von 
          Monkiewitsch die Komposition fest, indem er Teile des Bildsystems auf 
          den Bildgrund warf oder werfen ließ. Dieses Verfahren ist dem 
          dadaistischen Würfeln von Hans Arp und Sophie Täuber-Arp in den 
          Rasterbildern von 1918 nicht unähnlich und auch Marcel Duchamps 
          „Trois stoppages étalon“ von 1913/14 gehören zur Vorgeschichte 
          derartiger Zufallskompositionen. Der Kontext, in dem dieser 
          Bildfindungsprozess bei Lienhard von Monkiewitsch gesehen werden 
          muss, ist gleichwohl ein anderer. Er speist sich aus der Logik der Serie, 
          der Rolle des Betrachters und dem Selbstverständnis des Künstlers. Von 
          diesem Kontext als Bedingung für die Partizipation des Betrachters wird 
          im Folgenden die Rede sein. 
In der Mathematik erfordert die Logik der Serie die vollständige 
          Darstellung oder ihre Verdichtung in einer Formel. In der Kunst führt die 
          Darstellung umfangreicher Serien oft zu Unübersichtlichkeit und einer
          scheinbaren Redundanz. Für den Betrachter sind Serien ideal, die in 
          Größe und Anzahl der Arbeiten überschaubar bleiben. Für die 
          Ausstellung in der Städtischen Galerie Wolfsburg hat Lienhard von 
          Monkiewitsch die 1985–-86 entstandenen Serien „Zwei Schnitte in das 
          suprematistische Rechteck“ und „Zwei Schnitte in das suprematistische 
          Quadrat“ vorbereitet. Sie sind dort übersichtlich und unter optimalen 
          Bedingungen zu betrachten. Bei anderen Bildsystemen ergeben sich 
          zahlenmäßig weit umfangreichere Folgen. Bei „Zwei Schnitte in das 
          suprematistische“ Quadrat von 1985 sind es über 1.500 Variationen. 
          Doch auch diese hätten ausgeführt werden können, schließlich sind 
          Unübersichtlichkeit und scheinbare Wiederholung keine hinreichenden 
          Gründe, die Ausführung zu unterlassen. Aber müssen sie ausgeführt 
          werden wie die Zahlensysteme von Hanne Darboven, weil ein Tag auf 
          den anderen folgt? Oder ist eine Auswahl möglich? Eine Auswahl ist 
          möglich, weil die einzelnen Arbeiten einer Serie autonom sind. Ihre 
          formale Anlage ergibt sich nicht aus dem unerbittlichen Fortschreiben 
          eines Zahlensystems, sondern aus den möglichen Konstellationen von 
          Teilflächen. Es ist (fast) wie beim Würfelspiel: Mit drei sechsseitigen 
          Würfeln ergeben sich x mögliche Zahlenkombinationen. Dabei zählen 
          einzelne Kombinationen mehr als andere. Lässt sich das auch von 
          bestimmten Bildlösungen sagen? Sind einzelne Kompositionen 
          überzeugender, spannungsreicher, schöner als andere; und wenn ja, 
          welchen Einfluss hätte dies auf eine mögliche Auswahl? Für die von 
          Lienhard von Monkiewitsch verwendeten Bildssysteme gilt: Die 
          einzelnen Bilder der Serie bleiben autonom. Es ist nicht anders als bei 
          der Werkgruppe der Boden-Raum-Arbeiten, jener Serie von 
          Leinwandbildern, Zeichnungen und Siebdrucken, die zwischen 1969 und 
          1973 entstanden ist. Hier muss das einzelne Bild sogar unabhängig von 
          den anderen betrachtet werden können, soll sich jener Seh-
          DenkVorgang einstellen, den der Künstler beim Betrachter auslösen will: 
          „Wieviel muss ich von einem Raum darstellen […]“, so fragt er. „Der 
          Boden ist die Ausgangsform für einen Seh-Denk-Vorgang. Raum 
          entsteht und löst sich wieder in Fläche auf. Das Vorhandene wird von 
          dem Nichtvorhandenen beschnitten, erhält von ihm seine Form. Je mehr 
          Informationen das Vorhandene über sich gibt, desto detaillierter wird das 
          Nichtvorhandene gedacht. Je detaillierter der Boden, desto größer die 
          Möglichkeit, den Raum aufzubauen, um ihn zu begehen. Dann erfüllt 
          sich der Raum wieder mit Gegenständen“.
Nun ist die Wirkung von Kunstwerken auf den Betrachter seit langem 
          Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Schon 
          im 16. Jahrhundert empfiehlt Gabriele Paleotti dem Maler, durch 
          Genauigkeit, gefällige Farben und andere Überraschungen „auch die 
          Augen des Unerfahrenen zur Bewunderung zu zwingen“. Die 
          Ausmalung des Palazzo del Te in Mantua durch Giulio Romano ist ein 
          frühes Beispiel für eine Malerei, die den Bildraum in den Raum des 
          Betrachters öffnet. Erreicht wird dies durch eine Aufhebung des 
          Bildrahmens und einen totalen Illusionismus, der die architektonische 
          Begrenzung der Innenräume überwindet. Lienhard von Monkiewitsch 
          setzt weniger auf die Bewunderung als auf die Vorstellungskraft des 
          Betrachters, der durch die genau gezeichneten Bodenflächen und 
          Fußleisten den nicht gezeichneten oder gemalten Raum darüber 
          imaginiert. Der Betrachter all dieser Bilder bleibt jedoch ein 
          betrachtender Betrachter. 
In den Serien mit den Bildsystemen Quadrat, Parallelogramm und 
          Rechteck und in den Konstruktionen mit aufeinander folgenden 
          Fibonacci-Zahlen beteiligt der Künstler immer häufiger den Betrachter 
          am Produktionsprozess der Bilder selbst. Der Betrachter wird Co-Autor. 
          Er verantwortet die entscheidende Phase der Bildfindung. Auf den 
          Künstler hingegen gehen das Bildsystem, für das die Komposition 
          gefunden wurde, und die Ausführung zurück, die schon aufgrund der 
          technisch-handwerklichen Erfahrung, die sie erfordert, nicht delegiert 
          werden kann. 
Zeitgleich mit der Appropriation Art, mit den Arbeiten von Sherrie Levine, 
          Richard Prince, von Allan McCollum und Louis Lawler verlässt Lienhard 
          von Monkiewitsch mit diesem Konzept das humanistische Modell des 
          Künstlersubjekts und übergibt den Bildentwurf an den Betrachter. „Der 
          Sinn eines Bildes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seiner 
          Bestimmung. Die Geburt des Betrachters geschieht auf Kosten des 
          Malers“, sagt Sherrie Levine. Schon 1968 hatte Roland Barthes nicht nur 
          den Tod des Autors, sondern zugleich die Geburt des Betrachters 
          vorausgesehen – eine Prophezeiung, die sich weder im Pariser Mai von 
          1968 noch in der Behauptung von Joseph Beuys, „jeder ist ein Künstler“ 
          nachhaltig erfüllte. Erst als die Autoren selbst bereit waren, ihre 
          Autorität, Originalität und Kreativität rhetorisch und faktisch in Frage zu 
          stellen, konnte der Betrachter als Autor geboren werden. Aber ihre 
          Namen und Signaturen haben die Künstlerinnen und Künstler nicht 
          abgegeben. Hier bestehen sie vorerst noch auf Singularität und eignen 
          sich die Werke ihrer Kollegen, Bildikonen der Werbung oder eben 
          Kompositionsentwürfe von Atelierbesuchern an. Selbst in den Serien 
          nach Fibonacci-Zahlen, in denen einem zentralen schwarzen Rechteck 
          zwei buntfarbige, von zufälligen Passanten oder seiner Frau Regine 
          angemischte Farben zugeordnet werden, bleibt das Werk eine Arbeit von 
          Lienhard von Monkiewitsch. Die AutorInnen bleiben anonym.
Welche Rolle hat dann aber der ungenannte Co-Autor? Im Gegensatz 
          zur amerikanischen Appropriation Art relativiert Lienhard von 
          Monkiewitsch durch Aneignung nicht die Originalität und Authentizität 
          seiner Bilder, sondern versucht sie zu erweitern. Gerade in den Serien 
          über das Schwarze Quadrat entstehen durch die Tatsache, dass 
          Künstler und Co-Autor wie beim Cadavre exquis die Farbmischung des 
          anderen nicht kennen, Kombinationen, die dem Maler zutiefst fremd sind 
          und die er als selbst verantwortetes Farbfeldbild nicht in jedem Falle 
          akzeptiert hätte – innerhalb seiner Regeln der Bildproduktion aber 
          akzeptieren muss. Bei den gewürfelten Bildkompositionen ist es nicht 
          anders. Schon die vollständig ausgeführten Serien über das 
          suprematistische Quadrat enthalten höchst ungewöhnliche Mutationen 
          der schwarzen Fläche. Diese lassen sich jedoch aus der erkennbaren 
          Systematik der Serie ableiten und mit dieser begründen. Die reinen 
          „Zufallswürfe“, wie jene 40 Zeichnungen von 1987/88, die nicht mehr 
          durch das Programm der Serie getragen werden und bei denen nahezu 
          jeder Wurf eine Komposition ergibt, die sämtliche Traditionen 
          abendländischer Bildgestaltung ignoriert, haben wir es mit Innovationen 
          des Zufalls zu tun. Der Autor hätte sich kaum für eine dieser Formen 
          entschieden. Für Lienhard von Monkiewitsch liegen in der aktiven 
          Beteiligung des Betrachters und im Akzeptieren des Zufalls 
          Möglichkeiten, die tradierten Kompositionsregeln und Farbkontraste zu 
          verlassen und unsere Vorstellung vom gestalteten, ausponderierten 
          gegenstandsfreien Bild zu erweitern. Diese Entgrenzung der 
          Konventionen wird unterstützt durch eine Malerei, die keine Handschrift 
          hat und also auch auf keinen Autor verweist. Und doch ist es der 
          Künstler, der mit dem tiefen, immateriellen, rätselhaften Schwarz seiner 
          Bilder nicht nur die „Unerfahrenen zur Bewunderung zwingt“.        
Text als PDF-Download >>
« zurück
