Texte | Prof. Dr. Michael Schwarz | Kunsthistoriker

 

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Michael Schwarz
Raimund Kummer: Nóstos álgos



Schon auf der Treppe zu den Ausstellungsräumen im Hamburger Bahnhof / Museum für Gegenwart – Berlin wurde der Besucher der Ausstellung Raimund Kummer – Sublunare Einmischung vom Klackern und Rauschen eines Kodak Carousel Projektors empfangen, der im Vorraum des Ostflügels 80 Dias seiner Arbeit »Skulpturen in der Straße« von 1978/79 projizierte. In dieser akustischen Ouvertüre, vor allem aber in der skulpturalen Inszenierung der Projektion selbst mit dem alten Projektionstisch und einer transportablen Leinwand verwies diese Arbeit im Eingangsbereich auf das zentrale Werk der Ausstellung, auf Nóstos álgos, für das Raimund Kummer einen Raum im Raum gebaut hatte. Vorbei an den gestapelten Archivkartons von On Sculpture betrat man am Ende einen dunklen, geheimnisvollen Raum voller Geräusche und Lichtblitzen. Von unterschiedlich hohen Stelen warfen 81 Kodak Carousel Projektoren bestückt mit jeweils 80 unbelichteten schwarzen und einem weißen Diapositiv ›Bilder‹ an die vier Wände des Raumes. In diesem wurde der Besucher ein Akteur in Raimund Kummers Versuchsanordnung zur Erkundung von Raum, Zeit und den Inhalten der grauen und weißen Bildern. Weil die Projektoren keine konkreten Abbildungen der Wirklichkeit zeigten, sondern im ständigen Wechsel und in unterschiedlichen Formaten nur Flächen, wurden die Wände selbst zu bewegten Bildern. Insbesondere die differenten Grauwerte der Schwarzdias, unterbrochen durch die plötzlich auftauchenden und wieder verschwindenden Weißlichtfelder, öffneten den Raum, ließen ihn atmen, machten ihn für den Betrachter zu einem Erfahrungsraum der Sinne. Wie die Projektoren auf ihren Stelen, schaute er auf eine Welt möglicher Bilder. » ... es werden [hier] Bilder als ganz grundsätzliches Phänomen verhandelt. Und weiter noch die Bedingungen, unter denen man Bilder wahrnimmt. Die Zeitlichkeit von Bildern. Und so erkennt man dann, dass vielleicht die Abwesenheit von Bildern gar keine Abwesenheit ist und dass wir beginnen, jedes schwarze Bild als ganz eigenes, sehr differenziertes wahrzunehmen.« (Raimund Kummer im Gespräch mit Marc Glöde am 4. Juni 2012). Neben der Raumerfahrung ermöglichte Nóstos álgos eben auch eine Zeiterfahrung und dies in zweifacher Hinsicht. In seiner akustischen Präsenz und dem typischen Geruch nach verbranntem Staub, den die starken Ventilatoren hinter den Halogenlampen in den Raum bliesen, erinnerte uns die Installation an zahllose Diapräsentationen vergangener Jahrzehnte (für die Jüngeren wird dieses Gerät, dessen Produktion 2004 eingestellt wurde, bald nur noch ein exotischer Bildwerfer sein, längst ersetzt durch die nahezu lautlosen Beamer). Andererseits erzeugte diese Lichtskulptur permanent suggestive Projektionsflächen für ungesehene Bilder: Weil wir nicht die Bilder sahen, die wir beim Einsatz eines Diaprojektors zu sehen erwarteten, erinnerten wir uns an die vielen gesehenen Bilder [nóstos (Rückkehr, Heimkehr) álgos (Schmerz) = Nostalgie] oder sahen in der Hitze des Raums zukünftige Bilder, Bilder unserer Wünsche und Träume – Utopien. Nóstos álgos ist eine Skulptur, die viele Sinne anspricht, vor allem die Fernsinne das Sehen, Hören und Riechen. Ausgangsmaterial für diese Erfahrungen sind die Diaprojektoren: Als optisch-mechanische Geräte, die Bilder in gerahmten Dias mittels Licht auf eine Bildwand projizieren, ermöglichen sie in der konzeptionellen Verwendung und räumlich-skulpturalen Anordnung durch Raimund Kummer ihre Metamorphose zu einem Gesamtkunstwerk, das unsere Sinne weckt und weitergehende Erfahrungen möglich macht – individuelle, strömende und immer wieder andere, so wie es Harald Szeemann, ganz Künstler-Kurator, formuliert: »Wir sind [...] am Strömen und nicht am Arretieren des Kreativen interessiert.« Dabei hat die Verbindung von Hörerlebnis und Seherfahrungen in der Geschichte der Avantgarde eine lange Tradition: Angefangen von dem 1909 von Alexander Skrjabin entwickelten Lichtklavier über das Elektronische Gedicht von Le Corbusier im Philips Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel nach einem Entwurf von Iannis Xenakis und einer auf die projizierten Filmsequenzen und Farbprojektionen abgestimmten Komposition von Edgar Varèse bis hin zu den Visual Piano-Performances, bei denen Kurt Laurenz Theiner unmittelbar auf den gegebenen Raum und die darin gespielten Kompositionen mit live gesteuerten Lichtprojektionen reagiert. Das Originäre an Nóstos álgos von Raimund Kummer besteht darin, dass die Skulptur selbst die Komposition und eine Bildwelt erzeugt, »in der die ›Leere‹ des Lichts [...] eine schon unendlich gefüllte oder noch zu füllende Leere [ist].« (Eugen Blume)

© Michael Schwarz 2017






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