Texte | Prof. Dr. Michael Schwarz | Kunsthistoriker

 

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Michael Schwarz
Transformation von Material und Licht im Werk von Max Frey


In der Sonntagsbeilage der liberalen New Yorker Zeitschrift P. M. vom 27. Januar 1947 veröffentlichte Ad Reinhardt unter dem Titel »How to look at a cubist painting« einen Cartoon, der im oberen Teil einen Mann zeigt, der neben einem abstrakten Bild steht und mit Blick auf den Betrachter fragt: »Ha Ha. What does this represent?« Darunter antwortet das Bild, das nun laufen kann, ein Gesicht hat und ziemlich wütend ist: »What do you represent?«

In der Ausstellung »Max Frey – Große Klappe« 2012 in der Praterstraße Berlin war die Wirkung auf den Betrachter unmittelbar. Das zeigen die Einträge im Besucherbuch: »breezeee (breeze) came to me! Power came to me!« Oder: »Schwer, dem Fluchtreflex standzuhalten. Im Moment des Kollapses – Augen zu und durch. Herrliche Katastrophe und befreites Lachen danach. Für einen kurzen Moment fällt einem der Himmel auf den Kopf.« Die Besucher reagierten mit ihren Beiträgen auf eine Arbeit, die sie im Ruhezustand möglicherweise gar nicht sofort als ein Werk der Kunst identifizieren konnten, denn sie sahen auf dem Boden des Galerieraums nur zwei Rahmen ausgefüllt mit Pressspanplatten, der obere mit einem Ausschnitt, der im aufgerichteten Zustand in den querlaufenden Träger an der Decke zu passen schien und einen Motor, vielleicht auch ein Stahlseil, das von diesem zur Wand führte. Zur »Große(n) Klappe« wurde die rätselhafte Anordnung der Materialien und Geräte auf dem Boden erst, als der Motor begann, die obere der beiden Platten hochzuziehen, diese in senkrechter Position arretiert, dann aber gelöst wurde und – gebremst durch den eigenen Luftwiderstand – in die Ausgangslage zurückfiel. Die Wirkung begann also mit einer Überraschung, denn der eintretende Besucher konnte weder an den auf dem Boden liegenden Materialien noch an der umgebauten Seilwinde erkennen, was passieren würde. Und schon gar nicht war das Umfallen der aufgerichteten Wand vorhersehbar. »The resultant gust of wind is akin to standing too near to the edge of an U-Bahn platform: danger and uncertainty«, schrieb ein Besucher in Gästebuch. Die Überraschung über die unerwartete Brise an einem heißen Sommerabend führte bei vielen zu einer Verknüpfung des gerade Erlebten mit Erinnerungen, früheren Erfahrungen oder der Erkenntnis eigener Verhaltensmuster. Genau das hatte Ad Reinhardt dem Betrachter zeitgenössischer Kunst ja auch sagen wollen: Schau, wer Du bist, was Du erlebt hast, an was Du denkst, wenn Du mich (das Werk) hier siehst.

Neben der hier beschriebenen Transformation, durch die aus der kunstlosen Präsentation zweier Platten je nach Disposition ein bedrohliches Objekt, eine raumfüllende Luftmaschine oder einfach ein Slapstick-Nummer wurde, lässt sich in der »Große(n) Klappe« auch eine kunstimmanente Transformation ausmachen. Sie besteht in der Referenz auf die Arbeit Deadpan von Steve McQueen aus dem Jahre 1997, ein s/w-Film von 4:35 Min als Endlosprojektion, die den Künstler reglos vor einem Holzhaus zeigt. Während die Giebelfront auf ihn herabfällt, bleibt er unversehrt, denn dort wo er steht, befindet sich in der Wand eine Fensteröffnung. Das Motiv bezieht sich gleichsam als Reenactment auf den berühmten Stunt von Buster Keaton in seinem Film Steamboat Bill jr. von 1928, wird aber von Steve McQueen durch seine enorme Statuarik, vor allem aber durch die verschiedenen Kameraeinstellungen, das s/w-Material und das Fehlen einer Tonspur zu einer existentiell bedrohlichen Sequenz. Max Frey transformiert das Motiv wiederum in ein offen codiertes kinetisches Objekt, denn jenseits von Gefahr und Unsicherheit ergeben sich für den Betrachter der »Große(n) Klappe« weiterführende Assoziationen. Aus sicherem Abstand betrachtet atmete die Installation, sog die Luft ein und blies sie wieder aus. So wurde sie zu einem robusten Fächer, der den Flügelschlag der Vögel simulierte oder eben zu einem offenen Mund. Das gilt auch für den Titel der Arbeit, den man nicht nur im Sinne von Großsprecherei mit »Große Klappe und nichts dahinter« ergänzen sollte, sondern durchaus synonym mit dem Begriff »Berliner Schnauze« mit »Große Klappe und viel dahinter« verstehen kann. In der Werbung hat der dialektische Gebrauch eines bekannten Begriffs eine lange Tradition, aktuell eingesetzt z.B. für die Beschreibung der übergroßen Heckklappe des neuen BMW 3er Gran Tourismo oder der Kapazität des Laderaums im Peugeot 308 SW. Auch von Zlatan Ibrahimović, diesem Ausnahmestürmer von Paris Saint Germain, der gerne prahlt, heißt es inzwischen bewundernd: »Große Klappe und viel dahinter.«

Bleibt der Ortsbezug. Die Arbeit ist für den Galerieraum Praterstraße Berlin konzipiert und war dort an der rechten Querwand neben dem Eingang installiert. Die »Große Klappe« war in ihren Abmessungen, vor allem aber in ihrer Aussparung am oberen Rand für die Wand entwickelt worden und ist deshalb in dieser Fassung nicht an einem anderen Ort denkbar. Ein exklusiver Ortsbezug gilt nicht für alle Arbeiten von Max Frey, ist jedoch in seinen kinetischen Materialobjekten früh angelegt. So etwa in der Arbeit »Pong Ping Steps« von 2007 im Schloss Kalsdorf/Ilz aus Anlass des Festivals Diwan/regionale 2008 im barocken Treppenhaus. Die Tischtennisbälle wurden mit Hilfe eines Gebläses vom Fuß der Treppe über einen seitlich angebrachten Schacht auf den oberen Treppenabsatz gebracht, um von dort über die 28 Stufen und den Zwischenabsatz herunter zu springen. Die Treppe selbst war nicht zugänglich. Nun ist der Ortsbezug einer Arbeit ja nicht nur in Relation zum gebauten Raum oder zur Architektur zu verstehen. »Pingponghalfpipe« lässt sich auf vielfältige Weise auch auf die Geschichte des Ortes beziehen. Das Werk war in der Einzelausstellung »Kinetic Works« 2011 in der Sala Azulejos des Lissabonner Zentrums Carpe Diem Arte e Pesquísa (CDAP) ausgestellt, das sich im Palácio Pombal in der Rua de O Século befindet. Der Palast gehörte zur Zeit des Großen Erdbebens von 1755 dem später geadelten Marquês de Pombal, der sich als Erster Minister König Joseph I. als aufgeklärter Reformpolitiker und verantwortlich für den Wiederaufbau Lissabons große Verdienste erworben hatte. Auch den eigenen Palast, der wie der gesamte Bairro Alto weitgehend unzerstört geblieben war, ließ er im Stile der Zeit renovieren und neu ausstatten, so auch die Sala Azulejos, in der Max Frey sein Objekt ausgestellt hatte. Bei diesem lagen die Tischtennisbälle in der Halfpipe und wurden durch das seitliche Gebläse in Rotation versetzt. In seiner ganzen Dynamik, dem An- und Abschwellen der Bewegung, konnte der Besucher in diesem Raum mit seinen Azulejos aus der vom Marquês de Pombal initiierten Manufaktur Real Fábrica de Louça do Rato die Zeit des Großen Bebens aufleben lassen. Fixierte er sich auf eine der kleinen weißen Kugeln und machte sie für einen Augenblick zum Mittelpunkt seiner Weltsicht, geriet vielleicht sogar die Halfpipe in Bewegung und suggerierte das Beben und Reißen der Erde, dem damals mehr als 50.000 Menschen zum Opfer fielen.

Während sich bei diesen Arbeiten ein Ortsbezug herstellen lässt, sind andere kinetische Objekte von Max Frey autonom. Sie brauchen um sich herum Raum, können aber in sehr unterschiedlichen Ausstellungsräumen gezeigt werden. Das gilt mit Ausnahmen auch für die kinetischen Lichtobjekte. Eine solche Ausnahme ist die »Lichterkette« von 2011, die in Länge und in der Höhe ihrer Anbringung an der Decke an die Raumqualität angepasst wird. Diese Variabilität ist jedoch eine Sekundäreigenschaft, eine Notwendigkeit, damit das Werk an dem gewählten Ort angemessen präsentiert werden kann, nicht jedoch eine konstitutive Qualität. Diese sehe ich eher im Verhältnis des Zustands vor und nach dem Einschalten des Motors, der das jeweilige Objekt in Rotation versetzt. Es ist das Verhältnis von Stillstand und Bewegung, von Objekt und Erscheinung, von Material und seiner Transformation in Licht. Die Verwandlung ist immer wieder neu und immer wieder überraschend, denn nie ist vorhersehbar, welche Form die Arbeit annehmen wird, wenn das Licht angeht und das Objekt oder Teile des Objekts zu rotieren beginnen.

Physiologisch ist das Phänomen der Transformation durch Bewegung einfach zu erklären: Unser Auge vermag Lichtreize, die in zu kurzen Abständen auf unsere Netzhaut treffen, nicht mehr zu trennen. Sie verschmelzen im Gehirn zu einer durchgehenden Bewegung oder – wenn das Bild gleichbleibt – zu einer Lichtform, die in der Rotation aus den einzelnen Lichtquellen gebildet wird. Den Stroboskopeffekt in Verbindung mit der Nachbildwirkung machte sich der Film zunutze und legte die Bildfrequenz auf dem Kongress der Filmhersteller 1909 in Paris auf 1000 Bilder pro Minute (= 16 hz) fest. Mit der Einführung des Tonfilms wurde die Norm der Bildsequenz dann auf 24 hz erhöht. Frank Popper hat früh auf den Zusammenhang von Lichtkinetik und den Anfängen des Films hingewiesen: »Die Lichtkinetik als Verbindung von Bewegung und Licht oder als werkimmanente Lichtprojektion kann von drei Quellen abgeleitet werden, von den Lichtfarborgeln, von Fotografie und Film sowie von den Theaterprojektionen.« Max Frey hat auf der Grundlage des Stroboskopeffektes bewegter Lichtquellen seit 2009 die Werkgruppe der »Lampen« realisiert. Die Arbeiten haben als Steh- oder Tischlampe einen ganz gewöhnlichen Fuß und Schaft – der Schirm ist jedoch durch Motor und Lichterband ersetzt, die eingeschaltet einen hell erleuchteten Lampenschirm simulieren, ein Effekt, der in sorgfältig eingerichteten Wohnräumen regelmäßig für Überraschung sorgt, zumal den hybriden, lampenähnlichen Objekten in ausgeschaltetem Zustand ihre Mutation nicht anzusehen ist. Hingegen ist die »Lichtsäule« von 2012 weniger angewandt und eher ein freies, kinetisches Lichtobjekt, das nichts camoufliert und in ausgeschaltetem Zustand eine Konstruktion offen legt, die keinerlei Hinweise auf mögliche Effekte eines anderen Zustands erlaubt. Umso größer ist hier die Wirkung, wenn die rotierenden LEDs die rätselhafte Konstruktion zu einer Lichtsäule werden lassen.

Abschließend möchte ich an der Arbeit »Two Rotating Color Slides« von 2011 zeigen, wie selbstverständlich aber auch selbstbewusst sich Max Frey mit seinem Werk einbringt in die künstlerische Erforschung des Bildes als Wahrnehmungsfeld des Betrachters. Die Versuchsanordnung ist einfach: Zwei rotierende Spiegel werfen Bilder auf die Wände des jeweiligen Raumes. Es sind Bilder, die ihre Form ändern, sich überlagern und dabei farblich interferieren. Die monochromen Farbbilder entstehen durch die Projektion von 80 Lichtfilterfolien, die im Magazin der beiden Kodak Carousel Projektoren grob nach dem Farbkreis sortiert sind und weiter wandern, wenn ein Kontakt der rotierenden Spiegel das nächste Dia freigibt. Zwischen dem kinetischen Lichtobjekt und den Wänden des Raumes steht und bewegt sich der Betrachter und schaut auf Farbbilder, die in früheren Zeiten ein Fenster zur Welt waren und eine Wirklichkeit rahmten, die lange nachgeahmt, dann aber erfunden wurde. An diese Bildwelt, deren Reproduktion durch ein Dia eng verbunden war mit dem Gerät, das hier zum Einsatz kommt, erinnert »Two Rotating Color Slides«, postuliert jedoch gleichzeitig eine neue Wahrnehmung, die Bildgrenzen öffnet und den Betrachter einbezieht. Hier sehe ich Max Frey im Cluster einer Bildforschung, die im Bereich der Lichtkinetik bei Nicolas Schöffer beginnt und über Mischa Kuball, Ólafur Elíasson und Raimund Kummer in vergleichbaren Arbeiten mit unterschiedlichen Ansätzen ganz neue Seherfahrungen ermöglicht.





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